30. September 2018 


Zwischen all dem grausamen Morden der Skelettarmee, dem Kehleaufschlitzen, dem Köpfen, dem Durchbohren, den Flammen, dem Schwingen einer Sense vom Pferde aus, den aufgedunsenen Wasserleichen, dem lodernden Horizont inmitten des Anschwellens der Toten, fällt der Blick auf die beiden fröhlichen Gerippekerlchen im linken oberen Drittel des Gemäldes, auf einem orangefarbenen Plateau, die damit beschäftigt sind, kleine dürre Bäumchen zu fällen. Da kommt man doch ins Grübeln. Da wundert man sich. Sind die beiden nur Faulpelze oder ist ihnen die Vernichtung der Menschen kein wirkliches Anliegen? »Ach, das Schlachten und Meucheln, das ist schon okay«, sagen sie vielleicht, »aber dieser dünnen Birhha gehört wirklich einmal gezeigt, wo der Pfeffer wächst!«, und ab und zu kommt ein anderes Skelett vorbei und brüllt die beiden an: »Kommt sofort her, ihr Faulpelze, und helft mit beim Köpfeschaufeln!«
»Wir kommen gleich … nur noch dieses eine Gehölz hier.«
Oder wurden die Skelette degradiert? Stellten sie sich beim Morden und Rauben so ungeschickt an, dass ihr Vorgesetzter sagte: »Uh, oh! Jungs, Jungs, lasst das mal lieber! Kümmert euch doch um die Bäume.“ 
Aber da stellt sich wieder die andere Frage, was kann man denn groß falsch machen beim Töten und Brandschatzen? Haben sie vielleicht Menschen ausgegraben, anstatt sie einzugraben, haben sie entzündete Zähne gerissen, anstatt das Herz, waren sie am laufenden Band gegeneinander gestolpert und hatten sich mit lautem Klackerdiklack zu einem Knochenball verknotet?

Die seltsamste Sache ist gerade passiert. Karina Wintertod rief mich an, mit einer Anfrage. Karina Wintertod. Gerade als ich an meiner Arbeit für das Projekt über Brueghels Bild Triumph des Todes schrieb, läutete es. Mein erster Instinkt war zu lachen, in den Hörer zu schnauben. Irgendetwas mit »Junge Dame« oder »Junge Frau«, wie sie denn auf die Idee komme, das müsse ein Irrtum sein; aber ein anderer Instinkt erdrückte diesen Instinkt, ein Affekt der Neugierde. Denn die Kombination Karina Wintertod, das Literaturwunder, das sogenannte Literaturwunder, also die flapsige Wienerin mit der flapsigen Schreibe, und Caspar Orlando Tuppy, der Ästhetikprofessor mit der Ästhetikprofessur, das hatte irgendwie Biss. Das war ein guter Gegensatz.

Wintertod, Wintertod. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das erste Mal ihren Namen gehört oder gelesen hatte. Vor drei Jahren war sie plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht, Facebook, Twitter, Instagram, täglich frühmorgens mit der Aktentasche ins Internet und dort alle Register der Ich-AG gezogen. Ja, frech und laut musste man sein, das war gut, andererseits musste man aber auch wieder sehr brav sein und jeden Tag ordentlich zur Arbeit erscheinen. Besser oft und mittelgut als brillant und selten. An der Universität hatte es einen Social-Media-Berater gegeben, der mir genau erklärt hatte, wie das auf den sozialen Kanälen funktionierte. Andererseits hatte er – obwohl er einen Anzug trug – in einem Jahr nicht mehr als 700 Likes für die Universität Wiesbaden sammeln können; die Hochschule für katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik Regensburg bekam im gleichen Zeitraum 9000 Likes – da wurde er gekündigt.

Obwohl viele sie kannten, kennen müssen musste man Karina Wintertod nicht. Das war halt was für junge Leute, die noch nicht viel gelesen hatten. Sie war ein Star, das konnte man nur noch schwer verhindern, aber ihre Texte lasen sich trotzdem so: »Heute beim Furzen lautstark zu menstruieren begonnen. Nachher Buchteln im Hawelka.« Oder so ähnlich. Ich wusste es auch nicht mehr, ich hatte da nur einmal vor Monaten reingeschnuppert. Und auch nur, weil mir ein Malheur passiert war. Ich war bei einer Podiumsdiskussion eingeladen, eine Literatursendung von Radio Niedersachsen, mit den üblichen Verdächtigen und D- und F-Promis der Kulturszene, mit denen ich in letzter Zeit – leider – immer öfter eingeladen wurde, und da poppte plötzlich ihr Name im Rahmen einer Diskussion über ein ganz anderes Buch auf, ein spröder, einsilbiger, südkoreanischer Roman über eine junge Frau, die sich in einen Supermarkt verwandelt, und ich wusste auch nicht warum, ich war eigentlich gar nicht am Wort, aber plötzlich packte es mich und ich hielt eine Brandrede über die Minderqualität der heutigen Literatur, über die vielen kleinen Dämchen und Fräuleinwunder, ich erkannte mich kaum wieder, ich konnte mich nicht bremsen, ich schimpfte und schimpfte – was hatte man mich auch zu einer literarischen Diskussion eingeladen, ich kam ja von der bildenden Kunst –, und in der Fahrt mit dem Zug zurück nach Wiesbaden am nächsten Tag fiel mir ein, dass ich Karina Wintertod eigentlich mit Ronja von Rönne verwechselt hatte. Siedend heiß presste es mich in den Bahnsitz. Ui, war mir das peinlich. Verrisse müssen doch präzise sein, um zu sitzen. Ich hatte einen Ruf zu verlieren. Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Ich musste Karina Wintertod anrufen und mich entschuldigen! Einen Geschenkkorb an den Verlag senden. Vielleicht jemanden finden, der ihr eine Nachricht auf ihre Facebook-Wand schrieb. Vom Bahnhof aus lief ich gleich in die nächste Buchhandlung und kaufte mir eines ihrer Bücher (»Mein Exfreund Lurchi«). Ich setzte mich in ein Café und blätterte darin, mit den zittrigsten Händen. Ich kann meine Erleichterung gar nicht beschreiben, als ich nach wenigen Seiten herausfand, dass es sich hierbei um einen ebenso miserablen Plunder wie die Mädchenschreibe von Frau Rönne handelte. Ich lachte, ich freute mich; eine Riesenlast fiel mir von den Schultern. Den Geschenkkorb konnte ich mir sparen! Was wäre das für ein Aufwand gewesen, einen Geschenkkorb zu versenden? Das zu organisieren, auf der Post zu verschicken, in einer Schlange anzustehen! Die Formulierung des Entschuldigungsbriefs allein hätte mich vier Stunden eines köstlichen Feierabends gekostet, und wie stellt man sicher, dass das Obst bei der Anreise nicht zu faulen beginnt? Mit einem Mal war dieses dräuende Szenario verpufft, weil die Frau – was für ein Glück! – einfach nicht gut schreiben konnte. Ich bestellte mir nach dem Kaffee noch eine kleine Flasche Rotwein, die ich prompt nicht bezahlen konnte, ich hatte mein ganzes Kleingeld im Zug für Nüsse ausgegeben.

Gerade eben im Telefongespräch wollte ich es ihr beichten – zumindest die halbe Wahrheit, dass ich sie verwechselt hatte; wie ich ihren Schreibstil fand, musste ich ihr ja nicht gleich auf die Nase binden. Ich stellte mich schon darauf ein, freundlich und nebensächlich zu erzählen, wie dumm das damals von mir gewesen war, diese Verwechslung, aber ich sei ja auch ein nicht mehr ganz junger Mann, 64, mein Gehirn funktioniere nicht mehr so duktil, usw. usf., doch ehe ich mich versah, beendete sie das Telefonat und legte auf.

Sie war nicht unfreundlich gewesen, aber auch nicht übermäßig freundlich und originell, so wie ihre Postings es einem weismachen wollten. Sie wusste einigermaßen, wer ich war – das fand ich gut, so eitel bin ich gerade noch –, wobei mich aber verblüffte, was sie über mich wusste und was nicht. So hatte sie keinen blassen Schimmer gehabt, dass ich sieben Jahre lang in Wien gelebt und agiert und währenddessen sogar eine Zeit lang die Kunststücke im ORF moderiert hatte. Dafür hatte sie von meiner Begeisterung für Pieter „gehört. Während man für meinen Abstecher in den staatlichen Rundfunk Österreichs nur ein paar Zeilen in Wikipedia herunterscrollen muss, wussten von meinem Brueghel-Projekt nur die allerwenigsten. Nicht, weil ich es verheimlichte, sondern weil zu meinem allergrößten Leidwesen Sponsoren, Verleger und Theaterbühnen sich nicht dazu hinreißen ließen, es bedingungslos zu bezahlen.

Es war vielleicht nicht das schönste, feinste und wichtigste Bild aller Zeiten, aber es war das beste Bild, das ich kenne, mein Lieblingsbild: Der Triumph des Todes von Pieter Brueghel dem Älteren, 1562 gemalt. Als ich fünf Jahre alt war, hatte mir mein Großvater den Katalog einer Brueghel-Ausstellung von einer Madrid-Reise mitgebracht und da war es um mich geschehen. Es raubte mir den Atem, meine Backen begannen zu schwitzen. Wie bei einem Wimmelbild-Poster konnte man sich stundenlang in die Landschaft dieses Bilds vertiefen. Brennende Schiffe, musizierende Leichen, von Speeren durchbohrte Soldaten, juchzend glockenläutende Tote, ein von fröhlichen Skeletten besiedeltes Haus, den vorbeifahrenden Sterbenden ausgelassen winkend, und noch und noch und noch. Das Sterben war so unausweichlich und die todbringenden Skelette so motiviert bei der Sache. Sie hatten eine solche Freude!

Eine genauere Beschreibung des Bilds würde Stunden dauern, mindestens zwei, und genau das hatte ich vor: einen unterhaltsamen Abend auf einer Comedy-Bühne, auf der ich das Bild Ausschnitt für Ausschnitt durchginge und jede Szene in einen lustigen Sketch verpackte. Jahre zuvor hatte ich ein Buch über die Brueghel-Dynastie und ihren Einfluss auf John Milton Cage Junior geschrieben, das erst keiner veröffentlichen wollte und dann, als sich ein kleiner Universitätsverlag meiner erbarmte, keiner lesen wollte. Aber ich hatte so viel Arbeit in die Recherche gesteckt, nur ein Bruchteil davon war überhaupt in das Buch eingeflossen, es wäre doch zu schade, all diese Arbeit umsonst, also unbezahlt, gemacht zu haben.

Zu dieser Zeit beobachtete ich den Trend, dass Hochschulthemen wieder breitere Rezeption erfuhren, nämlich als anbiedernde Kabarettshows. Überall boomten halblustige Edutainment-Formate. Und Wissenschaftler, für die sich manche Universität in Grund und Boden schämte, wussten plötzlich nicht mehr ein noch aus vor lauter Geld, das sie auf ihren Tourneen verdienten. Es gab Wissenschaftsshows, Gesundheitsshows, ja sogar Philosophieshows, bei denen wüste Zausel mit Sprachfehler über Platon und Sokrates rappten. Man musste sich nur mit einem jungen, einigermaßen lustigen Comedian zusammentun, so schien es mir, ein paar bewegte Bilder projizieren, irgendwas mit Rauch und Explosionen, und schon sprudelte der Profit. Zum Glück konnte ich rasch Kontakt mit einem jungen Kabarettisten aufnehmen: Walter Graumann, einem fast 20 Jahre jüngeren jungen Mann, der nichtsdestotrotz mit gleich großen Sorgenfalten aufwarten konnte. Nach drei vielversprechenden Bühnenprogrammen war er mit einer eigenen Comedy-Serie im Fernsehen gescheitert. Zu seinem großen Unglück hatte er sich vor der Produktion die alleinige künstlerische Kontrolle ausgefochten, sodass er den Misserfolg niemand anderem als sich selbst anlasten konnte. Der Flop hatte ihn schwer getroffen, die große Sicherheit, mit dem Publikum geschmacklich im selben Boot zu sitzen, war weg, jetzt schwamm er regelrecht und nachdem ein vorsichtiger Versuch mit einem politischeren Programm ebenso scheiterte, war er restlos ratlos. Ein Kind war da, ein Haus gebaut, seine Frau im Streit gegangen, er brauchte Geld, er sagte zu. Sein sorgenvolles Wesen und seine Ziellosigkeit machten ihn mir hochsympathisch, ich freute mich auf die Zusammenarbeit, auch wenn es mir sehr schwer fiel, ihn nicht mit einer Nachbeurteilung seiner Lebensentscheidungen zu konfrontieren. Hätte er etwas gelernt, dann hätte er auch im Universitätsbetrieb arbeiten können, so wie ich, und die ärgsten finanziellen Löcher gestopft. Ich glaube, er wusste es.

Wir begannen mit der Arbeit an unserer Kunstgeschichteshow über Pieter Brueghel, oder Brueghel den Älteren, wie man ihn noch nannte, Bauernbrueghel war ein weiterer Name, und seine Söhne, Pieter Brueghel den Jüngeren bzw. Höllenbrueghel und Jan Brueghel, den Blumenbrueghel. Die Zusammenarbeit war überaus befruchtend, denn trotz des großen Altersunterschieds stellte ich fest, dass ich – geeicht durch meine vielen Vorträge, Vorwörter und Diskussionen – durchaus mit dem jungen Mann in Sachen Humor mithalten konnte, vielleicht war ich sogar lustiger, wer mochte das entscheiden, und vor allem: Wie sollte man es ihm beibringen, ohne dass es zu Spannungen käme? Ich hielt mich daher von Generalisierungen fern und beschloss, die Humorfrage sachlich Punkt für Punkt durchzugehen und mich in Detailfragen bezüglich bestimmter Formulierungen, die man meines Erachtens eleganter wählen könnte, durchzusetzen. Auch empfand ich das Ausmaß seiner Zwischenmoderationen beredenswert. Wer konnte denn wissen, dass mir der feine Humor so leicht von der Hand ging? Brauchte man da unbedingt immer und immer wieder einen anderen, der selbstbewusst mit knödeliger Stimme dazwischenfuhr, um einen schmutzigen Kalauer abzulassen? Dabei hatten wir in den 70er Jahren doch einen schier unerschöpflichen Pool an properen zweideutigen Witzen, viele davon waren immer noch gut – da musste man das Rad doch nicht ständig neu erfinden! Trotzdem wurde die Stimmung immer gereizter. Als ob ich etwas dafür konnte, dass seine Karriere so schlecht lief.

Walter Graumann erschien immer später zu den Proben, seine Haut wurde schlecht, er begann wieder zu rauchen, irgendwann warf er die Hände in die Luft, schüttelte den Kopf und ward nicht mehr gesehen. Dabei hatte ich gerade an jenem Tag die Rauchbombe besorgt. Ich fragte seine Kollegen und Kolleginnen, aber die waren zu feig, niemand traute sich zu, dieses gehobene Material zum Leuchten zu bringen. Ich hätte es mir durchaus zugetraut, diesen Abend allein auf die Bühne zu heben, sozusagen als Solokünstler, der Wissen und Humor in sich vereint, aber die Bühnen bzw. deren Direktoren hatten Zweifel. Sicher wäre es mir möglich gewesen, einmal einen Abend testweise zur Verfügung gestellt zu bekommen, aber ich brauchte nicht nur ein paar Sitzplätze und warme Bretter unter den Füßen. Ich benötigte einen Visual Artist, der die Gemälde animierte und aufs Wort hin punktgenau auf die Leinwand projizierte; einen Tontechniker für die Geräusche, das Stöhnen der Glocke, das Schleifen der Körper, die Speere, die in das falbe Fleisch bohren. Das kostete natürlich, aber alles andere fiele ja unter Lesung, und Lesungen können vieles sein, erhebend, aufrüttelnd, lebensbejahend, aber in den seltensten Fällen relevant Vermögen vermehrend. Leider gibt es seit den späten 80er Jahren keinen Mut mehr auf den Bühnen. Betulichkeit, Anbiederei, Angst ja, aber keinen Mut.

Ich blieb auf dem erarbeiteten Material sitzen. So viel war es schlussendlich ja gar nicht, denn Walter Graumann war es nach den ersten fruchtbaren Probetagen nur noch darum gegangen, seine Kopfschmerzen in besonders ekstatische Gesichtsausdrücke zu fassen. Ich hatte ein paar Witze über das Leben in der Renaissance, Italienreisen damals und heute, und ein paar lustige Namenskreationen weiterer fiktiver Brueghel-Verwandter.

All die Jahre kehrte ich immer wieder zu dieser Idee zurück, seufzte über das Nichtgewesene; Ach und Weh, was bloß hätte sein können? Und immer wieder stellte ich fest, dass es eine gute Idee war, sie wurde nicht schlechter.

War es nicht seltsam, dass genau in dem Augenblick, als ich mir das Projekt wieder vorknöpfte und in meinem Tagebuch Notizen dazu machte, Karina Wintertod bei mir anrief, und mich – aus all den tausenden Themen dieser Welt – gerade wegen eines Brueghel-Projekts kontaktierte?

Wenn ich das richtig verstand, war Karina Wintertod damit beauftragt worden, eine Anthologie über von der Kunstgeschichte zu Unrecht übergangene Künstlerinnen zu erstellen. Die Autoren sollten alle Autorinnen sein. Männer hätten schließlich in der Kunstgeschichte schon genug geredet. Das sagte sie nicht, aber das musste sie auch nicht sagen. Mir waren die Gedankengänge dieser neuen Generation von Neo-Feministinnen durchaus geläufig. Dass wir Männer schon genug geredet hätten. Wenn dem bloß so wäre! Selbstverständlich mussten mehr Frauen mehr reden, aber doch nicht anstelle der Männer, sondern zusätzlich zu den Männern. Es musste doch nicht immer ein Entweder-oder sein, nein, mehr Frauen sollten reden, durchaus auch in der Kunstgeschichte! Ich war sehr gespannt auf die weibliche Blickweise. Seit Jahren war ich schon gespannt, kaum zu zählen, wie viele Frauen mir in meiner näheren und weiteren Bekanntschaft angekündigt hatten, ein relevantes wissenschaftliches oder künstlerisches Werk zu veröffentlichen. Aber irgendetwas musste den Frauen dazwischengekommen sein, sonst würde ich nicht noch heute auf ihre bahnbrechenden Werke warten müssen. Was zeigt, wie schwer Frauen es heutzutage haben. All die Anforderungen, die an sie gestellt werden – Haushalt, Erziehung, Skincare und Selbstverwirklichung –, da kann man nicht alles mit hundertprozentiger Kraft erledigen, das ist doch unmenschlich. Vielleicht wäre die Problematik mit einem vom wissenschaftlichen Diskurs abgekoppelten eigenen geisteswissenschaftlichen Frauenlabor zu lösen, wo der Anspruch nicht darauf liegt, etwas fertigzustellen. Wo auch Unfertiges, Angerissenes, Interessant-zur-Hälfte-Gedachtes seine Berechtigung hätte. Ich denke mir, das könnte ein guter Anstoß sein, um weibliches Genie entsprechend zu pflegen. Ob das jetzt unbedingt aus denselben Budgets wie der Kunstbetrieb gefördert werden muss, ist eine andere Frage. Da war doch mittlerweile schon so wenig Geld vorhanden, das musste man nicht noch mehr belasten. Das Frauen- und Familienministerium wäre hierfür doch eine viel charmantere Lösung.

Aber natürlich war es für die Verfasserinnen der Anthologietexte nicht verboten, einen Mann als Berater hinzuzuziehen. Weshalb Karina Wintertod an mich herangetreten war. Sie hatte sich als Thema für ihren Beitrag Marth Brueghel ausgesucht. Man konnte über Karina Wintertods Texte sagen, was man wollte – es muss ja auch nicht alles immer um jeden Preis Literatur sein, genügt es manchmal nicht auch, eine amüsante Niederschwelligkeit zu bieten? –, aber das war wirklich eine saftig spannende Wahl.

Marth Brueghel also, Marth Brueghel – interessant. Die Mutter der Maler-Dynastie, die am Anfang allen Erfolgs thronte, die Mutter des Bauernbrueghel, die Großmutter des Blumenbrueghel, des Höllenbrueghel, und die Urgroßmutter des Pieter III Brueghel, dem von allen Seiten höchstmögliche Profillosigkeit attestiert wurde. Die Mutter, deren Maltechnik ihren Nachkommen bei Weitem überlegen war. Die Mutter, deren Bilder allerhöchstes Entzücken bei Professionisten aller Art erzeugte. Die Mutter, deren Bilder alle verschollen waren.

Die Mutter, von der ich noch nie in meinem Leben etwas gehört hatte.