Wer-ist-Rolfo-der-Terrorist

Wer ist Rolfo, der Terrorist?

OUVERTÜRE 

Weißes Rauschen, unaufdringlich, melancholisch. Spärliche Klaviersprengsel.
Das Bild: Unscharfe grieselige Schwarz-weiß-Bilder. 

STANLEY: 
Ich war da so einer Dreiergruppe beigetreten.
Ich und zwei Frauen – ab und zu kam noch einer dazu,
der in einem Hotel als Koch arbeitete.
Aber es ging dort nur um Theorieerstellung.
Pamphlete, Anprangerungen, Slogans für Buttons und Poster.
Aber in den Diskussionen, wenn ich mir die beiden so ansah,
die Geschwindigkeit,
die Nichtgeschwindigkeit,
in der das alles stattfand,
ich musste zu Rolfo.
Rolfo? Rolfo ist das ultimative Genie.
Der Untergrund des Untergrunds, the Terrorist’s Terrorist, sozusagen.
Seine Aktionen waren legendär und mysteriös – jeder erzählte eine andere Geschichte.
Bei Rolfo gab es auch Gewalt, aber er dachte Gewalt so anders.
Seine Gewalt war viel rauer, dabei minimalistischer.
Schwer abzuputzen.
Unbedingt musste ich zu Rolfo.
Ich wollte Aktivität, Frische – ich wollte nicht das Handwerk, sondern das Genialische der Revolution. Jetzt war ich ihm schon so nahe, so nahe.
Über ein Jahr trafen wir uns schon Dienstag, Donnerstag, Freitag
und erstellten Theorie und noch immer keine Spur von Rolfo.
Ich wusste, der Drucker, bei dem wir unsere Flugzettel drucken ließen,
stand in losem Kontakt zu Rolfo.
Also, er kannte mich und er kannte Rolfo.
Aber ich kannte nur den Drucker und Rolfo nicht.
Ich wollte nichts überstürzen,
hatte oft gehört, wie nervös, wie übernervös
Rolfos wölfische Sinne waren,
und wie schnell er seine Zelte abbrach,
wenn er das Gefühl hatte, dass jemand seine Witterung einsog.
Ob der Drucker Rolfo wohl von mir erzählte?
Der musste mich doch spüren.
Ich will kein Großmaul sein –
aber ich war ziemlich intensiv.
Ich hatte etwas drauf.
Die Zunge musste ich mir blutig beißen,
um mich vor dem Drucker nicht zu hell zu loben.
Der redete auch nicht viel.
Sah mich bloß an, grüßte, sagte: »Kannste mal da anpacken«,
aber sonst ein verschlossener Kerl eigentlich.
Aber ich war auch eine tickende Zeitbombe.
Nach all den Jahren, die ich mit mir erlebte,
mir über die Schultern kuckte,
wie ich Arbeit, Freunde, Freundin nach einer gewissen Zeit mit einer lodernden Flamme Destruktivität abfackelte,
war ich ein großer Kenner meiner selbst geworden,
und wusste um die Grenzen meiner Geduld.
Diese waren schon bis zum äußersten gespannt.
Ich war in einem dunklen hypernervösen Bereich. 
Platzt der Bogen? Platze ich?
Ich wollte es nicht raus finden müssen.
Und dann fand ich einen kleinen Zettel in die Speichen meines Fahrrads geklemmt vor.
Darauf stand, mit dickem schwarzem Filzstift geschrieben:
»Ich beobachte dich.«
Rolfo! Das war, das konnte sein Stil sein.
Hatte Rolfo Kontakt zu mir aufgenommen?
Und am nächsten Tag gab es wieder eine Botschaft:
»Habe heute Knödel mit Braten gegessen. Vorzüglich. Wir sollten uns treffen.«
Das war, das war ...  
Am nächsten Tag: 
»Wir sollten uns wirklich bald treffen.«
Und am nächsten Tag:
»Ich bin sehr stolz auf dich. Sehe unserem baldigen Treffen mit einem Pfiff auf den Lippen entgegen.«
Ich war, ich war so high vor Glück.
Wie Licht das in meine Seele gebrettert kam und mir fröhlich alles durchbumste.
Ein kleiner Dämpfer am nächsten Tag:
»Unglaublich viel Papierkrieg im Moment. Muss unser Treffen leider etwas verschieben.«
Und dann: »Ein Treffen wird sich in absehbarer Zeit wohl leider nicht ausgehen. Habe brennende Termine in Thailand. Wichtig« – in Großbuchstaben – »für unsere Sache«.
Ich war am Boden zerstört, zerschmettert von einem freundlichen Fußtritt.
Doch die Zettel trudelten weiter ein.
Nie erhaschte ich einen Blick darauf, wie die Zettel in die Speichen kamen.
Monate später, ich heftete gerade frisch kopierte Pamphlete zusammen,
hörte ich hinter dem Lüftungsgitter eine Stimme, die wisperte:
»Es ist Zeit, dich mit Rolfo zu unterreden. Eine große Sache steht an.«
Dann musste ich mir die Adresse eines Schließfaches notieren.
In dem Schließfach befand sich ein Schlüssel zu einer Hütte in den Bergen.
Mehrere Stunden fuhr ich mit dem Zug an einem nebeligen Wintertag in die angegebene Ortschaft. Mit schwerem Rucksack stapfte ich den Berg hoch, der Aufstieg dauerte über acht Stunden.
In der Hütte war niemand. Nur ein wohliges Feuer prasselte im Kamin.
Auf einem Tisch lag ein Zettel.
»Ein weniger zaghafter Bart wäre für die Sache wünschenswert.«
Für die Sache in Großbuchstaben.
Das saß punktgenau: mein Bart war wirklich unentschlossen.
Zwischen wildem elektrisiertem Dschungel und smarter Beatnikpose konnte ich mich nicht entscheiden.
Ich öffnete die Hintertür und trat ins Freie. Ein weißer blitzender Schneesturm umhüllte mich,
Man konnte kaum die eigene Hand vor Augen sehen, doch glaubte ich in einigen Metern Entfernung einen Schatten wahrzunehmen.
Ich konnte seine Anwesenheit spüren.
»Rolfo?« rief ich. »Rolfo?«
Doch der Schatten kam nicht näher, blieb dort stehen, an einen Baum gelehnt.
Ich wartete, rührte mich nicht vom Fleck weg, wartete, bis meine Finger, meine Zehen erst nass und dann taub wurden.
Längst war mir klar, dass Rolfo nicht mehr kommen würde.
Ich hatte versagt.
Nach mehreren Stunden war der Schatten verschwunden.
Nur noch ein Meer aus Schneeflocken, Nebel und Tränen.
Alles wurde weiß. 
 
Ab „Ein Schneesturm“ Projektion von Schneeflocken. Das Bild wird körniger, verrauscht. Nach Ende des Monologs: weißes Rauschen. 

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Triumph des Scheiterns 
von Peter Waldeck
 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Fadenheftung, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-42-8
Erhältlich in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe