Clemens Roman begann mit einem Hustenanfall in der Küche. »Es ist nichts«, sagte da seine Mutter noch und winkte ab, mit dem Geschirrtuch in der Hand, obwohl es gerade eben aus ihrer Lunge nach Aufruhr und Geröll geklungen hatte.
»Es ist nichts«, sagte sie auch, als sie eine halbe Stunde lang beim Spaziergang auf einer Parkbank saß. Sie rang nach Atem, versuchte es mit einem leisen schnellen Hecheln zu verbergen. Sie konnte nicht fokussieren, ihr Blick glasig, rasend, eine verrückte Murmel unter einem Schleier. Sie war diese halbe Stunde nicht ansprechbar gewesen und Clemens, so schrieb er, konnte es nicht ganz glauben, als seine Mutter diese Rast mit einer schlecht durchschlafenen Nacht rechtfertigte.
Clemens Mutter begann in der IKEA-Kantine zu weinen und das konnte vieles heißen, aber sie erklärte es damit, dass sie sich mit ihrer Putzfrau überworfen hatte.
Einmal im Supermarkt, als sie sich einfach neben den Dosen auf den Boden gesetzt hatte und er sie trösten wollte, da bemerkte er beim Massieren, dass die linke Schulter seiner Mutter eiskalt und die rechte brennheiß war.
Wenn sie sich ihre Menthol-Zigaretten anzünden wollte, musste er ihre Hand halten, sonst näherte sich das Feuer stetig ihrem Auge, ohne dass sie etwas dagegen unternahm.
Clemens probierte es aus. Wie weit kann man das Feuer dem Auge nähern? Schon lange bevor die Hitze grausam wurde, war es das Licht, das helle Weiß, das ihn hinderte.
Sie begegnete einem distinguierten Herrn auf der Alser Straße und kannte seinen Namen. Da war ihre Lunge bereits unheilbar vom Krebs befallen.
Sieben Seiten über die Verfärbungen ihres Rocks, als sie sich am Boden einer Konditorei entleerte.
Schließlich das große Coming Out: Sie breitete die Arme aus, stapfte in großen Schritten durch die Wohnung. Sie wollte dramatisch wirken, letzte Arie vor dem Vorhang, aber Clemens lenkte dieses Getue nur ab. Er konnte ihr gar nicht zuhören. Sie wirkte wie ein Tanzbär, dem man quer durch den Kopf geschossen hatte, notierte Clemens in seiner grausamen, gestelzten Sprache. Sie erzählte ihm alles. Vom Lungenkrebs, vom Brustkrebs, von den Geheimtüren des Körpers, durch die sich die Metastasen schlichen. Vom Parkinson. Von dem einen Arzt, der es ob des traurigen Zustands ihres Körpers nicht schaffte, ein Rülpsen zu unterdrücken. Clemens irritierte das blöde Gesicht, das sie während des Erzählens machte. Halb Lustspiel, halb Dorfdepp! War sie auch noch stolz, so kaputt zu sein? Sich zu spät um Hilfe gekümmert zu haben? Was war los mit seiner Mutter?
Clemens erschrak auch über seine Gedanken. Jeder reagiert natürlich anders auf traumatische Erlebnisse, aber das machte es nicht besser. Während der Körper seiner Mutter verdarb, ging er seiner kalten Wut auf den Grund.
Ein Mittelteil widmete sich Jugenderinnerungen, wo er erst mit scharfem Urteil, dann immer milder sich seiner Mutter erinnerte. Sie war eine stolze Frau, sie konnte Frohheit verbreiten, wie keine andere, aber es war ihr wichtig, dass die Dinge nach ihrem Willen liefen. Wenn nicht, wehe, wehe. Durch das Schreiben über sie, schrieb Clemens, konnte er erst die Perspektive des Sohnes verlassen und seine Mutter als das erkennen, was sie war. Eine vom Schicksal gebeutelte Person mit schweren Fehlern, die es sich und anderen nicht leicht machte, die aber eben nicht anders konnte, als alle mit ihrer Liebe zu erschlagen.
Gut, dass er nicht mehr bei ihr lebte, weil er schon über vierzig war, und nicht mehr dreizehn, und sich außerdem in Bayern versteckt hatte, beschrieb Clemens seine Gedanken in seinem Roman Das untröstliche Sterben meiner Mutter, so konnte er, wenn es zu viel wurde, Abstand halten und seine Gedanken ordnen.
Wie sie Clemens mit einem Geständnis überfiel, auf der Terrasse des Krankenhauses, mit der einen Hand den fahrbaren Tropf haltend, der die Chemotherapie in ihre Adern einschlich, mit der anderen die Menthol-Zigarette. An diesem Abend, unter kaltem dunklem Himmel offenbarte die Mutter ihre gesamte sexuelle Geschichte. Clemens hörte, ob er wollte, oder nicht, wie sein Vater im Bett war, wie sein Vater zu verschiedenen Zeiten in ihrem Leben im Bett war. Ob er es hören wollte oder nicht, zählte sie ihm alle Liebhaber auf, mit denen sie Clemens Vater betrogen hatte, sie zählte die wenigen Male auf, an dem sie ihren zweiten Mann mit Clemens Vater betrogen hatte, sie zählte die Dinge auf, die sie beim Sex erregten und die Clemens Vater nicht machen wollte, und für die es sich lohne, eine Beziehung zu beenden, und sie zählte, ob es Clemens hören wollte oder nicht, all die sexuellen Tätigkeiten auf, für die sich ein Seitensprung, nicht aber das Ende einer Beziehung lohnte. Sie kritzelte auf einem Blatt Papier die für sie ideale Form eines Penis auf und meinte, dass Clemens Vater diesem Penis in nur fünf Punkten nicht entsprach. Sie rauchte, sie weinte, vor Clemens Augen wurde sie Mensch. Dann fasste sie ihn an der Hand und wurde still. Sie blickte ihm tief in die Augen, intensiv, brennend, und sagte, dass sie – er solle sich nicht schämen, das wäre etwas Natürliches – wahnsinnig geil geworden war. Die Chemotherapie hatte sie, ganz entgegen der Voraussagen der Ärzte, unerhört, fast unbewältigbar lüstern gemacht. Ihr Unterleib glühte, brannte, schmetterte, sie wollte nicht so ungestillt aus dem Leben gehen. Es gab einen Arzt in diesem Krankenhaus, einen wunderschönen Arzt, mit grau melierten Schläfen, ob Clemens nicht vorfühlen könne, vom Arzt erfragen, ob er Interesse hätte an einem sinnlichen, keine Bedenken kennenden fleischlichen Akt mit einer frohen Person, die lebenserfahren genug ist, um alle sexuellen Tricks der Natur sehr fein zu beherrschen.
Was Clemens prompt tat, weil er sich über diese Distanzlosigkeit so ärgerte, dass er seine Mutter blamieren wollte, und dann ärgerte sich der Arzt, und das ärgerte Clemens wiederum. Wie konnte der Arzt nur so humorlos, so ohne Mitleid, ohne Augenzwinkern reagieren, wie konnte er sich so gehen lassen, dass man ihm die Genervtheit so ansehen konnte, dass er sie in rohe Sätze verpackte, das war doch schließlich Teil seines Berufs: Gute Miene zu den grausamen Albernheiten zu machen, die beim Krepieren eben so auftraten.
Zwei Seiten über Ärzte.
Dann schrieb Clemens gute zwanzig Seiten über einen Kindergeburtstag einer Bekannten, den er besucht hatte. Anlässlich der Fröhlichkeit der Kinder sinnierte er über seine Kindheit. Wann hatte er sich wirklich glücklich gefühlt, war da wirklich nur diese nervöse Angst?
An dieser Stelle komme sogar ich vor, in einem Satz: wir waren, 13 Jahre alt, zusammen im Urlaub, waren Schi fahren, stritten mit einer Göre, wollten das Rauchen beginnen und schafften es nicht.
Clemens merkte, wie sehr er seiner Mutter verzeihen wollte, einfach, um seine Ruhe zu haben, einfach, weil man das vielleicht so tat, wenn jemand dermaßen in den Schmerz und die Verirrung gestoßen wurde, ein einfaches Menschlein in Todesangst.
Eine Begegnung mit einem Priester, die Clemens forsch heraufbeschwor. Sonore Stimme, Rotwein, ein oranger Himmel in der Wachau. Thema: Versöhnung. Clemens wollte große Antworten auf diese Frage, ein endgültiges Gebot, durchüberlegt durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Aber ab der Hälfte bog der Priester ab, er hatte zu viel getrunken, und dann noch einmal soviel. Er redete nicht mehr vom Verzeihen, sondern darüber, dass man vor dem Verzeihen erst über die Schuld reden musste. Was sei denn Schuld? Wann ist man schuldig? Reichte eine Anschuldigung, um schuldig zu sein? Wenn zwei Menschen etwas Schönes miteinander erleben, kann man denn Jahrzehnte später mit dem Finger weisen und sagen, dass über das Gemeinsame nicht gemeinsam bestimmt wurde, dass Tricks im Spiel waren? Eine Zärtlichkeit kann doch auch etwas Aufbauendes haben. Wir waren doch alle Kinder Gottes. Wer hat hier wen hereingelegt? Letztendlich war es einfach in geworden, den Priester seiner Jugend anzuschmieren, ganz gleich, wer in wem gesteckt habe, und so weiter, und so fort. Mit drehenden Gedanken verließ Clemens die Wachau.
Ein langes Gespräch mit seiner Mutter im Park, im Verlaufe dessen sie vergaß, wer Clemens war, wer sie selbst war, warum sie hier im Park war. Sie begann mit einem Ast auf Clemens einzuschlagen.
Eine unangenehme Beschreibung der Anblick einer vom Krebs angefüllten Brust, die Tumore, die man unter der Haut sich winden sehen konnte.
Ein dichter Absatz über seinen Vater, den er liebte, aber der ihm trotzdem immer fremd geblieben war. Clemens konnte sich nicht erklären, wie seine Eltern zueinander gefunden hatten. Die Zurückgezogenheit, das Schweigen, die Strenge, die lauwarmen Gefühle des Vaters konnte er sich allerdings gut erklären.
Ein weiteres Gespräch mit seiner Mutter, in dessen Verlauf Clemens vor Wut mit der Hand ausholt, gegen dessen Ende sie einander aber umarmen und weinen.
Hundert Seiten detaillierte Schilderung des qualvollen Sterbens seiner Mutter in einer langen Nacht, die Clemens angetrunken in einer Hotelbar zubrachte. Zelle für Zelle wird beschrieben, wie sich der Körper ausschaltet, welche Gedanken seiner Mutter durch den Kopf gehen, die Abwechslung von Schmerz und Erleichterung, welches Zischen und Brutzeln in ihrem Gehirn dafür verantwortlich war, dass scheinbar zufällige Erinnerungen abgerufen wurden. Schmerz, Finsternis, in einer klaren Sprache. Ein schwieriger Mensch geht aus der Welt und es ist die traurigste Angelegenheit. Nach dem Gehirntod bleibt Clemens noch in einer gekünstelten Erzählperspektive aus dem Körper, beschreibt, was die Mikroben und Bakterien erleben, während der Gastkörper längst verstorben ist, vom stehenden Blut in den Adern, von den Gasen in ihren Gedärmen. Sie ging aus der Welt wie ein zitternder Aal, lautet der letzte Satz dieses Kapitels, der aus dem Zusammenhang gerissen vielleicht alberner klingt als im Roman.
Der Roman endet mit einer akribischen Aufzählung all der Kosten, die auf Clemens zukamen, als er das Begräbnis seiner Mutter ausrichtete.
Schon Wochen bevor Das untröstliche Sterben meiner Mutter erschien, ging das Rauschen im Feuilleton los. Ein störrisches Meisterwerk sei Clemens Roman, wurde geschrieben. Knallhart, aber getrieben von einem zärtlichen Herz. Endlich widmete sich da jemand, ohne auszuweichen, dem Menschen in all seiner Peinlichkeit, seiner Würdelosigkeit und eben – doch – seiner Schönheit. Nichts wurde geschönt, weder die Mutter, noch Clemens, noch der Mensch. Eine solche Wucht hatte Clemens früheres Werk, obwohl von hoher Qualität, einfach nicht erahnen lassen.
Und das war erst der Anfang. Als das Buch erschien, begann der Irrsinn vollends. In einer der wenigen noch verbliebenen Literatursendungen im Fernsehen erhob sich einer der Kritiker von seinem Platz und begann zu applaudieren. Die bunten Wochenendausgaben der Boulevardzeitungen widmeten Clemens Fotostrecken und behutsame Geschichten. Er wurde in die größte Talkshow Deutschlands eingeladen und die Moderatorin himmelte Clemens an, dass man meinen mochte, zwischen den beiden lief – gerade eben vielleicht, vor Aufnahme der Sendung – Sexuelles.
Drei Wochen dauerte dieses Berauschen an der ausgestellten Verwundbarkeit an.
Dann begann das Geraune, erst auf Blogs im Internet – aber das konnte man ignorieren: im Internet gab es keinen Unterschied zwischen Lüge, Wahrheit und Gemeinheit –, dann im Backstage-Getratsche bei Theatern, Lesungen und Galerien und dann – mit einem Paukenschlag – in den größten Tageszeitungen, der FAZ am Sonntag, der Tagesschau und in der Zeit im Bild: Clemens Mutter ging es gut. Sie atmete, sie lebte, sie arbeitete in einem Kaufhaus im zehnten Bezirk in Wien, als Verkäuferin für die Modekette Tlapa. Sie war einigermaßen verdattert über das Buch, zeigte ein gestrenges Gesicht. In den Interviews, die sie gab, hielt sie sich mit direkter Kritik an Clemens zurück, sondern sprach allgemein über die unzumutbaren Lebensumstände, die eine tüchtige Frau wie sie vorfinden musste, und wandte sich ganz ungeniert an den Wiener Bürgermeister mit der Bitte um mehr Geld, eine bessere Anstellung, usw.
Mehr lesen von Peter Waldeck:
Triumph des Scheiterns
von Peter Waldeck
256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Fadenheftung, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-42-8
Erhältlich in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe