Buchleser4_Subutex

Aus dem Tagebuch eines Buchlesers

20. Dezember 2020

Ich machte es mir auf einem Schemel im Burggarten bequem und beantwortete Valeries Brief.
„Beste Freundin“, schrieb ich, „ich kann ihre Gedanken hinsichtlich Virginie Despentes nicht teilen.“ Ich hatte keinen Grund mehr, mich zurückzuhalten, nachdem auf die feurigen Worte meines vorigen Briefes nur Zaghaftigkeiten und wenig glaubwürdige Vertröstungen zurückgekommen waren. „Nein“, schrieb ich, „Sie irren sich. Sie irren sich in Bezug auf Virginie Despentes und Sie irren sich in Bezug auf Vernon Subutex. Dieser Roman ist ein Musterbeispiel für einen Autor, der nicht weiß, was er an seinem Werk eigentlich hat. Despentes glaubt, sie hat die eine Sorte Ouevre geschrieben, die Leser und Leserinnen hatten aber die andere Sorte Roman gelesen. Wie ein Schlag in die Magengrube hat es uns getroffen, als wir den Abstieg von Subutex in die Armut mit erlebten. Das war so unübertrieben, so realistisch, so hart, wir begannen beim Lesen zu zittern und mussten uns anhalten, so sehr nahm uns das Schicksal mit. Subutex, das hätten mit einer Leichtigkeit wir sein können. Nur eine kleine Ungereimtheit in den Lebenswidrigkeiten und schon hätten wir den selben Weg nach unten genommen, wie dieser glücklose Vogel. Aber zu unserem und ihrem Leidwesen dachte Despentes, sie schreibe an einem Gesellschaftspanorama und ließ allerhand drollige Figürchen auftreten, die – zugegebermaßen – im ersten Band noch ihre Berechtigung hatten, aber dann nur noch schimpfmäuliges Blähwerk darboten. Mit nur einem Band wäre es ein unglaubliches Meisterwerk gewesen, Band 2 und 3 holen die Trilogie jedoch auf das Niveau einer Straßendetektiv-Serie, in dem sich alle Protagonisten nur mit Arschloch und Schwuchtel beschimpfen (Was war los mit den Franzosen? Konnten sie sich keine Namen merken?). Und von dem bescheuerten Zukunfts-Ende im letzten Band ganz zu schweigen. Ein Jammer. Was für ein Jammer! Nein, hier irrte Depentes, und mit ihr irren Sie sich, meine geschätzte Freundin. Sie haben ein gutes Händchen für Poesie, aber lassen Sie ihre Finger von Prosa und Natur.“

Ich legte meinen Federkiel zu meiner Seite auf den Kieselweg, um wieder zu Atem zu kommen. Valerie mit ihrem bleichen Auftreten und ihrem abweisenden Gehabe raubte mir noch die letzte Ruhe. Hektisch stopfte ich meine Pfeife mit Kräutern aus den Bengalen, als zwei Herren des Weges kamen, ungestüm der eine, enerviert der andere, die in ein Gespräch verwickelt waren, das von einer Niedergeschlagenheit geprägt war; um ein Haar hätten sie mein Tintenfässchen umgetreten. Sie hielten Abstand und trugen Masken, sodass sie sich ihre Sätze zurufen mussten, um Gehör zu finden. So kam es allerdings auch dazu, dass mir keine Einzelheit ihres Austausches entging. 

„Als wäre ich ein Schwarm Raben, den man mit Schrot aus der Flinte vom Felde gescheucht hätte. So fühle ich mich.“
„So fühlst du dich?“
„So fühle ich mich!“
„Kein Wunder, dass du dich so fühlst. Du arbeitest jetzt schon  … wie lange an dieser Serie?“
„7 Jahre.“
„7 Staffeln! Potzblitz. Ich sollte es wissen. Als dein Agent sollte ich es wissen.“
„7 Jahre, Toni, ich muss da raus. Hilf mir. Ich brauch einen anderen Job.“
„Ich weiß. Ich weiß. Das höre ich oft. Du redest von nichts anderem.“
„Was ist passiert, Toni? Was ist passiert?“
„Du sagst das so, als wäre etwas Schreckliches passiert, Paul. Es ist nichts Schreckliches passiert. Du arbeitest an einer der erfolgreichsten Serien der europäischen Fernsehgeschichte.“
„Aber mir fällt nichts mehr ein.“
„Das sagst du immer und die Serie wird besser und besser.“
„Da stehe ich und bin ein aufstrebendes Comedy-Talent. Ich fülle mittlere Hallen, werde in Talkshows eingeladen, und alles ist so belebend und spannend und dann kommt dieses Angebot, dieses tolle Angebot.“
„Da habe ich mich mächtig ins Zeug gelegt.“
„Dieses Angebot kommt und Heissa! TV! Ich arbeite im Fernsehen. Eine kleine Serie. Ein verrücktes Ding Fernsehen, kurze Laufzeit, ein Kulthit. Das wird lustig.“
„Und dann dieser Mega-Erfolg.“
„7 Staffeln Der Zirkusbrand. 7 Staffeln a 24 Folgen a 30 Minuten. Das sind 5040 Minuten Zirkusbrand.“
„Die Leute bekommen einfach nicht genug davon.“
„Die ersten paar Folgen ging es ja noch. Der tollpatschige Raucher, das Äffchen, das sich in der Kiste versteckt, die siamesischen Zwillinge, von denen einer Feuer fängt.“
„Ja, das waren gute Folgen, Klassiker.“
„Und die Art, wie die Leute schreien – da gab es ein paar lustige Kombinationsmöglichkeiten, aber seien wir ehrlich, seit Folge 2 gibt es nichts mehr zu erzählen.“
„Als die Clowns abbrannten.“
„Als die Clowns abbrannten. Und jedes Mal, wenn ich in der Autorenkonferenz versuche, ein paar neue Ideen einzubringen, werde ich abgeschmettert. Was ich schon für Ideen hatte: Lasst sie doch aus dem brennenden Zirkus entkommen. Ein neuer Jahrmarkt. Wie wäre es mit neuem Publikum, das versehentlich den brennenden Zirkus betritt. Sogar die Feuerwehrleute hat mir Gerry abgeschmettert.“
„Es ist eben seine Show.“
„Ich will ja nicht jammern. Ich will nur mal auch etwas anderes schreiben. Eine andere Show.“
„Das verstehe ich nicht, warum man ein fliegendes Schiff verlassen will, das ist mir unerklärlich.“
„Ich kann nicht mehr. Mir fällt nichts mehr ein. Es gibt keine Witze mehr. Hast du die letzten drei Folgen gesehen, Toni? Es sind schon alle verbrannt. Die letzten 3 mal 30 Minuten war nichts anderes zu sehen als loderndes Gebälk.“
„Ja, aber da sieht man wieder, was ihr Witzeautoren mit ein paar Flammen alles so machen könnt. Es war hillarious. Und die Quoten sind auch kaum runter.“ 
„Ich will eine andere Show.“
„Wir hatten das alles schon.“
„Ich bin am Ende. Ich will eine andere Show.“
„Ich weiß nicht. Ich kann meine Ohren mal offen halten.“ 
„Oh, das wäre gut.“
„Da gibt es diese neue Sitcom. Ein Remake eines britischen Gassenfegers. Das rennt bei denen seit 93. Eine Familie erfriert auf einer Yacht in der Antarktis.  Die wollen das mit einem Riesenbudget aufziehen. Sie haben erstmal 50 Folgen bestellt. Soll ich versuchen, dich da an Bord zu bringen?“
„Ich weiß nicht. Ich muss das überschlafen.“
„Dann mach das.“
„Gute Nacht!“
„Gute Nacht! Das wird schon wieder!“
„Hmm?“
„Das mit dem brennenden Pferd, das auf einen Rechen steigt. Ich habe mich totgelacht.“

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Triumph des Scheiterns 
von Peter Waldeck
 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Fadenheftung, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-42-8
Erhältlich in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe